Zürich, 29.12.33
Sehr geehrter Herr Krause!
Schade, dass Sie Ihren Brief nicht einige Tage früher an mich schickten. Sie hätten
dann nicht so lange auf eine Antwort warten müssen. Ihr Schreiben kam nämlich
gerade in meine Hände, als ich von einer Reise nach Leipzig-Berlin nach Hause
zurückkehrte. Ich hatte einen Transport deutscher Kinder, die zu einem
achtwöchigen Aufenthalt in die Schweiz reisten, in Berlin abgeholt und stattete bei
der Hinreise Leipzig einen kurzen halbtägigen Besuch ab. Sicherlich hätte sich bei
dieser Gelegenheit eine Zusammenkunft einrichten lassen.
Sie sehen schon aus meiner Einleitung, dass ich mit Deutschland und deutschen
Freunden immer noch rege Beziehungen unterhalte. Ich war im vergangenen
Sommer schon zum vierten Male in Süderoog und habe es schöner denn je
getroffen. Dies Jahr waren auch zwei deutsche Knaben je acht Wochen in meinem
neuerbauten Heim zu Gaste. Der eine Junge, den ich bei meiner letzten Reise selbst
abholte, stammt aus der Gegend von Halle und erinnerte mich durch seine Mundart
sofort sehr lebhaft an Sie und Ihre Süderooger Gefährten aus dem Sachsenlande.
Sie fragen mich um meine Meinung über das neue Deutschland. Ich setze mich zwar
der Gefahr aus, von Ihnen als minderwertig eingeschätzt zu werden, denn Sie
schreiben, dass nur minderwertige Elemente fremder Völker anderer Meinung als Sie
sein könnten. Aber ich wage es trotzdem, Ihnen in einigen Punkten meine Meinung
kund zu tun.
Über den Nationalsozialismus will ich mich nur ganz knapp äußern. Es wäre eine
Kühnheit, nach der kurzen Zeit diese gewaltige Bewegung beurteilen zu wollen und
darüber voreilig zu schwatzen. Vorerst nehme ich die Rolle eines stillen Beobachters
ein. Irgend eine umfassende Kritik könnte höchsten Ihnen und mir
Unannehmlichkeiten bringen und jeden Einwand könnten Sie mit der Einrede
entkräften, dass ich eben nicht in den Verhältnissen drinnen stecke.
Wir kennen ja die deutschen Verhältnisse nur aus den wenigen Mitteilungen unserer
Tageszeitungen und aus den Lob-Artikeln der deutschen Blätter. Wie objektiv die
Presse Verhältnisse schildern kann, habe ich zur Genüge in der Kriegszeit erfahren
und bin für mein ganzes Leben vom Glauben geheilt, dass alles so sei, wie die
Druckerschwärze es schildert. Damals konnten wir aus den Meldungen der
feindlichen Agenturen tagtäglich den Widerspruch der Berichte erkennen und
ersehen, dass die Zeitungen in Kriegs- und Revolutionszeiten eben der Vermittlung
wahrer Tatsachen nicht mehr dienen, sondern in erster Linie ihre Leser suggestiv
bearbeiten und sie für irgendetwas zu begeistern haben.
Mein Urteil wird also noch auf sich warten lassen. Ich richte mich nicht nach Worten,
sondern nach Taten. Entscheidend für mein Urteil ist, wie das neue Deutschland mit
dem Elend der Arbeitslosigkeit fertig wird!
Nur zu einer Einzelfrage, die ich etwas näher zu kennen glaube, will ich mich äußern.
Ich kann Ihre Einstellung zu den Juden nicht ganz verstehen. Den Judenhass, der
sich auch in Ihrem Briefe zeigt, kann ich nicht mit christlichem Glauben in Einklang
bringen. Ihr Deutschen müsst doch ein eigenartiges Christentum haben, wenn Ihr die
Gebote der Nächstenliebe und das „Liebet Eure Feinde, segnet, die Euch fluchen,
auf dass Ihr Kinder Eures Vaters seid“ derart missachtet. Diese beiden Gebote habe
ich immer für die Perlen des Christentums angesehen. Ich bin kein Kirchengänger
und zweifle an vielem, was die Religion anbetrifft, aber ich zähle mich doch noch zu
den Christen, weil ich mich bestrebe, Nächstenliebe zu üben. Mir scheint, dass der
Jude nun als Sündenbock für all das Üble herhalten muss. Sie schreiben von den
Warenhäusern, die den Mittelstand vernichten. Haben denn die Fabriken, deren
Besitzer Christen sind, nicht auch den gewerblichen Mittelstand vernichtet? Die
Warenhäuser spielen doch im Handel dieselbe Rolle wie die Fabriken in der
Industrie.
Mir scheint auch, dass mit der Unterdrückung der Juden die Hauptschuldigen am
deutschen Volke am wenigsten getroffen werden, denn diese Helden haben ihr Geld
schon längst über die Grenze gebracht und fühlen sich in ausländischen Kurorten
sehr wohl. Aber diejenigen Juden, die sich schlecht und recht, wie ihre arischen
Mitbürger, durchs Leben gekämpft haben und auch keine Ersparnisse zur Seite
legen konnten, werden nun von der ganzen Härte der neuen Gesetze bedrückt.
Übrigens seien wir doch so ehrlich: Auch unter den Christen gibt es gemeine
selbstsüchtige Leute genug!!
Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass uns Schweizer natürlich die Umwälzung in
Deutschland ziemlich schmerzlich berührt hat und zwar aus einem psychologischen
Grund. Sie können es einem Demokraten aus Überzeugung nicht verargen, dass er
sich dem deutschen Demokraten näher fühlt als dem deutschen Nationalsozialisten.
Vielleicht haben Sie es schon erlebt, dass aus Ihrem Bekanntenkreis jemand vom
Protestantismus zum Katholizismus übergetreten ist. Sicher hat Ihnen dieser
Gesinnungswechsel bittern Schmerz ausgelöst, auch wenn diese Umstellung zum
Vorteil des Beteiligten geschah. Sie werden sich sicher nachher dem Betreffenden
ferner gefühlt haben. Ähnliche Gefühle hat in mir der politische Wechsel in
Deutschland meinen deutschen Freunden gegenüber bewirkt.
Nun zur zweiten Frage, die unser eigenes Haus betrifft: „Sind die Schweizer noch
Deutsche oder sind sie nur! Schweizer, die sich in ihren vier Wänden wohl fühlen und
nicht darüber hinaus wollen?“
Da muss ich Ihnen denn schon mit dem Brustton tiefster Überzeugung sagen, dass
wir in erster Linie Schweizer sind. Wir fühlen uns als ein Volk, das sich nicht trennen
lässt. Wir Deutsch-Schweizer haben uns in Not und Gefahr mit unsern welschen
Brüdern französischer und italienischer Zunge zusammengefunden und keine
wissenschaftliche Rassenkunde wird uns von ihnen entfernen können. Da redet nicht
die Wissenschaft, da spricht das Herz mit seiner allgewaltigen Sprache. Vor zwei
Jahren noch wusste man wenig vom Rassenfimmel! Man halte dieses trennende Gift
von uns fern! Wir wollen gerne ein minderwertiges Gemisch verschiedenen Blutes
sein, aber frei und einig miteinander leben. Wir brauchen diese ins Kraut
geschossenen Theorien nicht um uns zu finden, wir sind schon lange kräftig
beisammen und haben unsere Verbindung in harten Tagen bewährt!
Wir freuen uns, Deutschland zu unsern Freunden zu zählen!
Aber Freundschaft ist noch keine Heirat!
Und jeder Versuch Deutschlands, uns von unsern welschen Volksgenossen entfernen zu wollen,
käme mir ebenso niederträchtig vor, wie das
Bestreben eines Menschen, in die Ehe seines Freundes Zwietracht zu säen, um die
Scheidung herbeizuführen!
Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich etwas warm werde und kräftiger als in der
Einleitung auf die Tasten hämmere, aber hier rede ich von meinen höchsten Werten
und Idealen, und das greift ans Herz.
Bei uns denkt kein Mensch je an Anschluss; trotzdem bei uns die Gedanken und
Worte noch ganz frei sind, wird es niemandem einfallen, je ein Wort darüber zu
verlieren!
Selbstverständlich ist in den letzten Zeiten durch die Vorgänge in Ihrem Lande
bedingt sehr viel von der Staatsform gesprochen worden. Doch wie sich die
Vorgänge auch gestalten, wir Schweizer bleiben der Demokratie treu. Wir sind mit
dieser Form der Regierung gut gefahren. Unser Parlamentarismus hat nie versagt
wie der deutsche. Unsere Landesväter und Volksvertreter haben uns vor Krieg und
Hunger zu bewahren gewusst, und es wäre von uns in höchstem Maße töricht,
wollten wir erprobte Einrichtungen über Bord werfen! Unsere Demokratie ist nicht erst
vierzehn, sondern schon über hundert Jahre alt, erprobt und gefestigt. Doch was sich
bei uns bewährt hat, konnte sich bei Ihnen in allerdings merklich anderer Form nicht
durchsetzen und führte zum Zerfall!
Gewiss gibt es auch bei uns Leute, die mit der Regierung unzufrieden sind, aber
Unzufriedene wird es immer geben! Diese Sorte, die eben nur im
Konzentrationslager zu bessern wäre, gründet bei uns neue Parteien. Wir lassen sie
ruhig gewähren und reden. Diese Leute haben keine hoch gesteckten Ziele, sie
warten nur darauf, Führer spielen zu können, endlose Streitereien und Zwiste
beweisen zur Genüge, welche Erwartungen diese Leute hegen!
Wenn Ihre Zeitungen das Gebaren dieser Leute aufbauschen und den Anschein
erwecken, als würden wir Schweizer nur darauf warten, gleichgeschaltet zu werden,
so sind solche Berichte den Gräuelnachrichten schlimmster ausländischer Zeitungen
gleichzusetzen!
Ich fasse zusammen: Ich hoffe sehnlichst, dass Ihr deutsches Volk bessern Zeiten
entgegengeht, über den Weg zu seinem Glück muss es sich selbst am besten
auskennen. Wir Schweizer haben allen Grund, mit unseren Einrichtungen zufrieden
zu sein und sie zu unserm Wohlergehen zu verteidigen. Wir wollen mit dem
deutschen Volke in Freundschaft leben und in friedlicher Zusammenarbeit uns
gegenseitig fördern.
Achte jeden Mannes Vaterland, das deinige aber liebe.
Mit frohen Neujahrsgrüßen
Walter Angst
(Leider kein Bild von Walter Angst)
Christian Krause |
mit seinem Bruder Helmut
(später "PiKra" Olt. Krause Chef 3. Kp.Pz.Rgt. 35)
– an einem internationalen Ferienlager auf der Hallig
Süderoog bei Pellworm (Nordsee) teilgenommen.
Dieses Lager war von dem
Schweizer Sekundar-Lehrer (Gymnasial-Lehrer)
Walter Angst geleitet worden.
Der19-jährige Christian Krause hatte 1933 einen Brief an den väterlichen Freund in die Schweiz geschrieben, auf den er die im Folgenden wiedergegebene Antwort erhielt.
Info zu Joachim Krause und dem erschienenen Buch "Fremde Eltern"
Joachim Krause |
Die gefundenen Briefe führten u.a. zum Buch und noch zu viel mehr... https://www.halligsuederoog.de/geschichte-der-hallig/ |
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